Vorarlberg: Die Roma-Entführer, die es nie gab
Mai 17th, 2022 | Published in Medien & Presse, Rassismus & Menschenrechte
Das uralte rassistische Märchen von „kinderstehlenden Zigeunern“ spukt noch immer durch viele rassistische Gehirne – und sogar noch durch so manches Medium. Jüngstes haarsträubendes Beispiel aus Österreich: das Vorarlberger Online-Medium VOL.AT (Vorarlberg online).
„Mutter schockiert: Fremde versuchte Bub wegzuziehen“, heißt es da in fetten Lettern in der Überschrift zu einer heute veröffentlichten Meldung. Und (man beachte den Indikativ): „In Hohenems packte eine unbekannte Frau ein Kind an der Hand. Der Bub war mit seinem Opa in einem Lebensmittelgeschäft unterwegs.“
VOL.at präsentiert den vereitelten Entführungsversuch in Titel und Vorspann also lautstark als Fakt – und erwähnt erst viel weiter unten im Text, was die Polizei feststellte: dass die angebliche „versuchte Kindesentführung“, um die der Artikel so viel Aufhebens macht, in Wirklichkeit nie stattgefunden hat. Die Warnung des Polizeisprechers, Gerüchte im Internet nicht leichtfertig zu verbreiten, hat die Redakteurin überhaupt am untersten Ende des Artikel versteckt – dort, wo wohl nur die wenigsten sich flott durchs Online-Angebot klickenden User jemals hingelangen.
Die Journalistin hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, eventuelle Zeugen des Vorfalls zu suchen und zu kontaktieren. Nicht einmal mit dem angeblichen Hauptzeugen (den Großvater, der mit dem Kind unterwegs war) hat sie offenbar gesprochen. Statt den Großvater zitiert das Medium ausschließlich, und dafür umso ausführlicher, bloßes Hörensagen aus zweiter Hand: nämlich die Mutter, obwohl diese gar nicht dabei war. Wenn man ein Lehrbuchbeispiel dafür sucht, wie journalistische Berichterstattung nicht geht – hier ist es.
Und das Beste: Spätestens bei der Erwähnung des „weißen Kastenwagens“, in den böse Roma kleine Kinder zerren würden, hätte es bei nur fünf Minuten Recherche klingeln müssen:
„Kindesentführung mit weißem Lieferwagen? Wie ein Gerücht von 2012 wieder Eltern verunsichert“, titelte 2019 die deutsche Factchecking-Seite Correctiv.org: „Ein Facebook-Beitrag aus dem Jahr 2012 wurde in den letzten 24 Stunden von mehr als 12.500 Personen geteilt. Darin werden Eltern gewarnt, ein Mann in einem weißen Lieferwagen versuche, Kinder zu entführen. Der Beitrag wurde schon vor sieben Jahren entkräftet.“ Eine neuerliche Nachfrage bei der Polizei ergab, dass auch im Jahr 2019 „keine Fälle [vorlägen], auf die die Beschreibung im Facebook-Beitrag zutreffen könnte.“
Damit war die Falschmeldung aber nicht aus der Welt. Dieselbe Lügengeschichte machte noch einmal im Herbst 2021 in Deutschland die Runde: „Tausende Facebook-User haben seit Ende September Behauptungen geteilt, wonach bundesweit Männer in weißen Transportern versuchten, Kinder zu entführen“, berichtete das Faktencheck-Team der Nachrichtenagentur AFP. Und wieder: „weiße Transporter“ … Und wieder: Die Polizei wusste nichts von einem solchen Vorfall.
Wie schnell – egal ob mit Vorsatz oder aus Dummheit – im Internet verbreitete Fake News in blutige Gewalt gegen die Roma-Minderheit umschlagen können, zeigt ein Blick nach Frankreich. Dort führten vor drei Jahren – bis hinein ins Detail (weißer Lieferwagen!) frappierend ähnliche – falsche Online-Gerüchte im Großraum Paris zu einer Serie von Gewaltakten gegen Roma bzw. gegen Personen, die von den Gewalttätern fälschlich für Roma gehalten wurden. (Wir berichteten.)
„Die Menschenrechtsorganisation Romeurope zählte zwischen dem 16. März und dem 5. April über dreißig Angriffe gegen Rom:nja oder als Rom:nja wahrgenommene Personen. In mehreren Fällen griffen größere Gruppen Unterkünfte von Rom:nja an, es gab zahlreiche Verletzte“, so der Bericht der „Unabhängigen Kommission Antiziganismus“ der deutschen Bundesregierung über die Ereignisse in Frankreich. Dieser 2021 erschienene Bericht (pdf) widmet der in Variationen also bereits seit vielen Jahren kursierenden Falschmeldung, die nun auch Vorarlberg erreicht hat, sogar einen eigenen Abschnitt im Kapitel „Social Media“ (Unterkapitel „Verhältnis von Social-Media-Aktivitäten zu Gewalt“, S. 158f.).
VOL.at hat inzwischen, man darf annehmen: aufgrund kritischer Rückmeldungen wie der unseren auf dem Twitterkanal dROMaBlog, klammheimlich den Hinweis auf die angebliche ethnische Zugehörigkeit der angeblichen Täterin aus dem Artikeltext entfernt. Im Screenshot des Facebook-Postings, der weiterhin unverändert in der Mitte des Artikels abgebildet ist, ist dieser aber nach wie vor groß und deutlich zu lesen.
(Text: dROMa)
Der Artikel wurde am 18.5.2022 (6:30) um den vorletzten Absatz erweitert.
Update, 18.5.2020 (14:00): Die Redaktion hat heute, nachdem wir unsere Rechtsansicht schriftlich dargelegt haben, den Screenshot mit der diffamierenden, weil vollends unbelegten ethnischen Zuschreibung kommentarlos von der Artikelseite entfernt.