Literatur & Bücher

Bayern: Studie zur „Zigeunerpolizei“ des BLKA

April 18th, 2024  |  Published in Geschichte & Gedenken, Literatur & Bücher, Wissenschaft

BayernEveline Diener: Das Bayerische Landeskriminalamt und seine „Zigeuner­polizei“. Kon­tinui­täten und Dis­kon­tinui­tä­ten der bayeri­schen „Zigeuner­ermit­tlung“ im 20. Jahr­hun­dert (=Schriften­reihe der Deutschen Gesell­schaft für Polizei­geschichte e. V., Band 25), Verlag für Polizei­wissen­schaft: Frank­furt am Main 2021 (560 S.)

Die spezifisch genozidale Ausprägung der national­sozia­lis­ti­schen Verfolgung der „Zigeuner“ fand in der Geschichts­wissen­schaft und in der medialen Öffent­lich­keit erst ver­gleichs­weise spät Be­achtung. Dem spielte zu, dass eine ent­rechtende „Zigeuner­politik“ und „Zigeuner­verfolgung“ lange Zeit als normal an­ge­sehen wurde. Diese Proble­matik wird am Bei­spiel der für die „Zigeuner“- bzw. „Landfahrer­ermitt­lung“ zu­stän­digen Stelle des 1946 ge­grün­deten Bayeri­schen Landes­kriminal­amts (BLKA) unter­sucht. Hier werden Kon­tinui­täten sowie Dis­kontinui­täten in „Zigeuner­politik“ bzw. „Zigeuner­verfolgung“ auf der Zeit­schiene „Kaiserreich“, „Weimarer Republik“, „National­sozialis­mus“ und „Nachkriegs­zeit“ auf­ge­zeigt. Dafür werden zwei Forschungs­schwer­punkte zu­sammen­geführt: Die Unter­suchung der ein­schlä­gigen Vor­geschichte – an­gefangen vom Kaiserreich bis zum National­sozialismus – und schließ­lich die Unter­suchung der per­sonellen, inhalt­lichen und organi­sato­ri­schen Aus­gestal­tung der „Zigeu­ner“- bzw. „Landfahrerstelle“ des Baye­ri­schen Landes­kriminal­amts der Nachkriegszeit. Hierbei liegt der Fokus auf Prägungen und Laufbahnen der dort tätigen Be­schäf­tigten, auf gesell­schafts­politi­schen Rahmen­bedin­gun­gen und Einfluss­fak­toren sowie schließ­lich auf lang­fristig ge­prägten Strukturen und Mentalitäten in „Zigeuner­politik“ und „Zigeuner­ermitt­lung“. Somit leistet die Arbeit eine For­schungs­berei­che­rung auf dem bisher noch wenig unter­suchten Gebiet der „Zigeuner“- bzw. „Landfahrer­ermitt­lung“.

(Text: Verlagsinfo)

Eine kritische Besprechung von Markus End finden Sie hier (pdf).

Siehe auch:
Bayern: Polizei erforschte „Landfahrerstelle“
, 15.12.2021

Arnold Fortuin. Die Verfolgung der Sinti und Roma im Saarland

April 4th, 2024  |  Published in Geschichte & Gedenken, Interview, Literatur & Bücher, Radio, Podcast & TV, Religion, Wissenschaft

Buchcover: Arnold FortuinFranz Josef Schäfer: Arnold Fortuin. Die Verfolgung der Sinti und Roma im Saarland, Saarbrücken 2022 [→Blattlaus-Verlag]

Der Illinger Historiker Franz Josef Schäfer legt erst­ma­lig die Ge­schichte der saarländischen Sinti und Roma vor, einer weit­gehend ver­gesse­nen NS-Opfer­gruppe.

Pfarrer Arnold Fortuin war der erste Seelsorger der deutschen Sinti und Roma. Bereits seit den Zwanzige­rjahren des 20. Jh. be­treute der dama­lige Saarbrücker Kaplan an der Michaels­kirche in Saarbrücken St. Johann die Außen­seiter und erteilte ihnen Unterricht. In der NS-Zeit gab er ihnen Trost. Nach dem Krieg war er ihr Anwalt und Berater in Ent­schädi­gungs­fragen. Seit 1955 findet all­jährlich eine Wallfahrt von Sinti und Roma statt zur Illinger Bergkapelle.

Die Monografie würdigt ausgiebig zum ersten Mal den Men­schen und Seelsorger Fortuin, der viele Jahre nach seinem Tod mit dem Bau des Fortuin-Hauses in Berlin sowie der Be­nen­nung einer Straße und einer Schule in Illingen eine späte An­er­kennung ge­funden hat. Neben einem histori­schen Abriss der Minder­heit stellt der Autor ihren Verfolgungs­weg auf quellen­kund­­li­cher Basis dar am Beispiel aus­ge­wählter Familien. Wie die Be­völ­kerungs­gruppe in belletris­ti­schen Werken saarländischer A­uto­rin­nen und Autoren ge­sehen wurde, ist eben­falls vor­zu­finden.

(Text: Blattlaus-Verlag)

Das Buch von Franz Josef Schäfer, thematisiert in der ausführ­li­chen Dar­stellung der Vita des katholi­schen Geist­lichen den Wider­spruch von indivi­dueller mensch­licher Hilfe und politischer Igno­ranz der Amtskirche. Schäfer be­trachtet einer­seits Fortuins Loyalität gegen­über dem Dienst­herrn und schildert anderer­seits, akribisch recher­chiert und mit großer Empathie, das per­sönliche Auf­be­gehren des Priesters, sein un­ge­broche­nes Engage­ment für die Minder­heit, sein Eintreten gegen die Unter­lassun­gen und Ignoranz der Mehrheit. Der Autor bewahrt sich den­noch die not­wendige Distanz. Der Zivil­courage Fortuins, die riskante Unter­stützung der Roma und Sinti in der NS-Zeit und der kon­tinuier­liche Einsatz für die Rechte der Roma und Sinti nach 1945, steht pointiert die Kritik an den Äußerun­gen des Kirchen­mannes gegen­über, nämlich der Kol­portage des üblichen Klischees, den ver­brämten Genera­lisie­rungen, die seit Jahr­hun­derten Grundlage der Dis­kriminie­rung sind. Read the rest of this entry »

Boschitscha o lek mirneder di …

Dezember 24th, 2023  |  Published in Literatur & Bücher, Romani

Boschitscha o lek mirneder di ando bersch hi

(Weihnachten ist der stillste Tag im Jahr, 1901)

Rainer Maria Rilke (1875–1926)

Boschitscha o lek mirneder di ando bersch hi,
adaj schunes tu o cile vodschtscha te dschal taj te tschalal
sar ori, save kiratiskere ori phenen:
Boschitscha o lek mirneder di ando bersch hi,
adaj o cile tschavengere atscha bare on,
afka sar te o koji bartschonahi, save on diken,
taj dajale on o cile dschuvla
taj o cile tschavengere atscha bare on.

Adaj iste ari dschas ando dugo vilago
kameha tu la boschitscha te dikel, la schukar,
afka sar te tro gondo le forijendar schoha manglo,
afka iste ari dschas ando dugo vilago.
Odoj paschlon bare nebi pedar tute,
save upre durarde parne vescha nugodinen,
o droma bartschon telal tre botschkori
taj bare nebi paschlon pedar tute.

Taj ando bare nebi terschol jek tscherheni
cilon prado use jek tschulo baro ududanipe,
o duriptscha pasche an sar jek vela
taj ando bare nebi terdschol jek tscherheni.

La Clara Rilkejake, Boschitscha 1901

Ins Romani übersetzt von Josef Schmidt.
Andi Romani tschib o Josef Schmidt o prik bescharipe kertscha.

Sammelband über den NS-Völkermord

Oktober 11th, 2023  |  Published in Geschichte & Gedenken, Literatur & Bücher, Wissenschaft

Cover Sinti und RomaKarola Fings / Sybille Steinbacher (Hrsg.): Sinti und Roma. Der natio­nal­sozia­lis­ti­sche Völker­mord in histo­ri­scher und ge­sell­schafts­poli­ti­scher Per­spek­tive (=Da­chau­er Sym­posien zur Zeit­ge­schichte, Bd. 19), Wall­stein Verlag, Göttingen 2021, 288 S.

Der Völkermord an den Sinti und Roma: bis heute ein »blinder Fleck«. Der Völker­mord an den Sinti und Roma erfuhr erst eine öffent­lich weithin sicht­bare An­erken­nung, als 2012 in Berlin das zentrale Denkmal für diese Opfer­gruppe ge­schaffen wurde. Doch bis heute ist das Wissen um die Verfolgung der Minder­heit und den an ihr began­genen Völker­mord gering.

In historischer Perspektive werden das Verfolgungs­gesche­hen im Deutschen Reich, das Leid im Kon­zentrations­lager Dachau sowie die Tötungs­verbrechen in Ost- und Südost­europa dar­gestellt. Dem Span­nungs­feld von Täter- und Opfer­per­spek­tiven und den Kontinuitäten und Brüchen nach 1945 gilt ein beson­deres Augenmerk. In ge­sellschafts­politischer Perspektive werden Fragen der Ver­mitt­lungs- und der Bürgerrechts­arbeit proble­matisiert sowie die Bedeu­tung des bis heute wirk­mächtigen Anti­ziganis­mus für die Über­lebenden und deren Nach­kommen the­matisiert.

Aus dem Inhalt: Read the rest of this entry »

Sterna Meinhardt liest „Arie des Todes“

Oktober 9th, 2023  |  Published in Literatur & Bücher, Radio, Podcast & TV

Sterna liest„Ich könnte vielleicht von mein­er Her­kunft auch mal was er­zählen“


Lesung: Die Freiburger Autorin Sterna Mein­hardt trägt ihren eigens für die Ver­an­stal­tung ge­schrie­be­nen auto­bio­gra­fi­schen Text „Arie des To­des“ vor.

RDL, Sendereihe: Morgenradio, 28.3.2023
Anhören: →Lesung in Freiburg-Weingarten, 18:58 Min. (mp3)

Jenny Warnecke stellt die Autorin so vor: „Sterna kommt von der Schwäbischen Alb und lebt seit 1995 in Freiburg. Sterna spielt Instru­mente ohne Noten und spricht neben ihren beiden Mutter­sprachen Romanés und Deutsch vier Fremd­sprachen. Sterna war Teil der Sintiz­za-Radio­sen­dung No Country and No Land bei RDL. Eines ihrer Gedichte trägt die Zeile No Country and No Land ; das war titel­gebend für die Redak­tion. Kost­proben gab’s bereits mehr­mals in der Reihe Sterna and Friends (hier, hier, hier, hier) im Rieselfeld und in der Innen­stadt.“

(Programminfo und Sen­dung: Radio Dreyeckland)

Odyssee am Balkan

Oktober 4th, 2023  |  Published in Geschichte & Gedenken, Literatur & Bücher, dROMa (Magazin)

Aus dem dROMa-Archiv (68/2022):

Mirano Cavaljeti (re.) und sein Bruder Harry, 1946 (Foto: Mirano Cavaljeti)Kindheitserinnerungen aus dem Krieg

Mirano Cavaljeti war einer der Großen auf den Operet­ten­bühnen Europas. Bis zu seinem Bühnen­ab­schied vor gut zwan­zig Jahren trat der deutsche Tenor in 115 Theater­häu­sern auf. Über seine Her­kunft hielt er sich lieber be­deckt. Mit 89 Jahren hat er nun aber seine Lebens­ge­schich­te ver­öf­fent­licht.

Hinter ihm liegt eine schillernde Karriere. Als umjubel­ter Tenor stand Mirano Caval­je­ti-Rich­ter mit vielen Stars auf der Bühne, mit Johannes Heesters teilte er die Gar­derobe, mit Milva reiste er durch Italien. Er bril­lierte in der „Zauberflöte“ ebenso wie im „Zi­geu­nerbaron“. Vor allem das Ope­retten­fach hatte es ihm angetan, hier feierte er seine größ­ten Erfolge. Das Publikum lag ihm zu Füßen, auch in Österreich.

Fragen nach seiner Herkunft wusste Cavaljeti stets charmant aus­zu­weichen. Oder er flunkerte, dass er eigent­lich aus Südtirol stamme, und warf wie zum Beweis ein paar Brocken Italienisch hinter­her. „Über die ganzen Jahre hin­weg hielt ich an dieser Er­klärung fest und glaubte schließ­lich fast selbst daran“, erin­nert er sich. Kaum einer seiner Bühnen­kollegen, und schon gar nicht das Publikum, wusste von seiner Sinti-Her­kunft – und von den Schrecken seiner Kindheit.

Jetzt, mit beinahe 90 Jahren, hat er sich dazu durch­gerun­gen, seine verschwie­gene Lebens­ge­schichte zu Papier zu bringen. Unter dem Titel „Auf der Flucht über den Balkan“ liegen seine Erin­nerun­gen, mit einem Nach­wort versehen von der Histo­ri­ke­rin Annette Leo, nun­mehr in Buchform vor. Read the rest of this entry »

Pharikani roas upro Balkan

Oktober 3rd, 2023  |  Published in Geschichte & Gedenken, Literatur & Bücher, dROMa (Magazin)

Aus dem dROMa-Archiv (68/2022):

Mirano Cavaljeti (re.) und sein Bruder Harry, 1946 (Foto: Mirano Cavaljeti)Tschavoripeskere palgondoliptscha andar o haburi

O Mirano Cavaljeti jek le lek bare­de­ren­dar upro ope­re­ta­ke­re khe­li­pes­ke­re tha­na andi Euro­pa sina. Dschi use les­ke­ro kise­ti­nipe angle la­tsche bisch ber­scha, o nimtsch­ko te­nori ande 115 te­ate­ris­ke­re khera khe­lahi. Pedar les­kero telsch­ta­mi­nipe but na phu­kav­lahi. 89 ber­sche­na akan les­keri dschi­vi­pes­keri his­to­ri­ja ari dija.

Pal leste jek bari karijera paschlol. Ojs kamlo tenori o Mirano Cavaljeti-Richter, but prin­dscharde dsche­nenca ando pra­dipe te dikel sina, le Johannes Heesteriha ov peske jek garderoba ulatscha, la Milvaha duach i Italija roasin­tscha. Ov brili­rintscha andi „Zauberflöte“ afka sar te ando „Zigeuner­baron“. Butvar o ope­rete­jakero koja aun le leske kertscha, adaj ov pre lek bareder jeri­niptscha mula­tintscha. O dschene uso pre leske pasch­lo­nahi, te andi Austrija.

Le phutschajiptschenge pal leskero telschtaminipe, o Caval­jeti mindig latsche andar o drom te dschal dschan­lahi. Vaj ov hohav­lahi, hot ov andar sud Tirol al, taj kaj le te patschan, ov mindig poar alava andi italitiki tschib palal tschid­lahi. „Pedar o cile berscha, ada erkle­rinipe upre likerahi taj bojd te me le patscha­jahi“, phenel ov adi. Bojd niko leskere kole­gendar taj schoha nisaj dscheno dschan­lahi, les­kere Sinti-telsch­ta­mini­pestar – taj te pedar o bibastale ter­dschi­jiptscha ande leskeri tscha­vengeri cajt.

Akan, bojd 90 berschenca, phentscha ov, hot pri garudi dschivi­pe­skeri his­torija tel te pisinel kamla. Telal o anav „Auf der Flucht über den Balkan“ akan les­kere pal­gondo­li­nip­tscha, jeke palal pisime alaveha la hist­oriker­ki­jatar Annette Leo, ande jek kenva angle paschlon. Read the rest of this entry »

Jek endscheli upro phiko

September 12th, 2023  |  Published in Geschichte & Gedenken, Interview, Literatur & Bücher

Aus dem dROMa-Archiv (51/2017):

Ein gutes LebenSchunipeskeri kenva: O holanditiko Sinto Zoni Weisz phukal pri bijografija


Kekaj so sa pasirintscha, kekaj so me sa na­scha­tschom“, phe­nel o Zoni Weisz: „me bas­talo ma­nusch som.“ taj oda, kekaj jek bi­bas­talo hischo pedar les­kero ileto pa­schlo­lahi – sajt o 19to maj 1944, kada ov ojs efta ber­schen­ge­ro iste use dik­lahi, sar les­keri Sin­ti fa­mi­li­ja an­dar o lo­geri Westerbork, Auschwitz ledschim uli.

Ov na ulo ledschim, kaj leske jek holanditiko harengero upro srastu­nakero than pomo­schin­tscha, naschi te dschal: „Te me mri kalapa tel lijom, akor iste nasches, iste nasches!“, phen­tscha leske o haren­gero. Taj o Zoni te naschel kes­dintscha taj upre jek srastuni upre urtschano, savi bejg ladlahi. Ande minden­fe­ltike garujip­tscha o masek­tscha prik dschiv­tscha – ando vescha, use gadsche, ande jek thudeskeri firma, mindig la daraha, le nimtsche nim­cendar astardo te ol. Ham o Zoni prik dschivtscha: „I cili cajt“, phen­tscha lo, „jek endsche­li upre mro phiko sina.“

Ada sa, o adiveseskero 80 berschengero phukal, afka, hot kiva­nines tuke, hot adala duj CDs ande saki isch­kola­keri bib­lijo­teka terdschon. 120 minuti phukal o Zoni Weisz pedar o falati pre dschi­vi­peskere dromestar: usar o tscha­voripe ando grasten­gere verdi, savo le and gejipeha le nimtschke nim­cendar jek bibas­talo kiseti­nipe lakla; taj la „kala heftschatar“, savi ali, kada leskeri familija and tschapim uli: „So, so ande tro dschi­vipe bari­kano hi, bejg hi!“

Ham o Zoni jek nevo kesdipe schofintscha: Na dur pal o kisetinipe ojs but­scha­schi use jek floristo kes­din­tscha, taj maschkar o bokreti, pro akaripe lakla. Tel phaglo tschak le nimcen­gere di­janstistar ando varno vesch ande Surinam, o Zoni Weisz srastuna discip­linaha upre pe butscha­lintscha, usar o arsikli­pes­kero tschau dschi uso floristo leskere vilagostar, saveske 2002 muguli o bokre­ten­gero keripe le kiralen­gere bija­vistar prik dim ulo. Read the rest of this entry »

Ein Engel auf der Schulter

September 9th, 2023  |  Published in Geschichte & Gedenken, Interview, Literatur & Bücher, dROMa (Magazin)

Aus dem dROMa-Archiv (51/2017):

Ein gutes LebenHörbuch: Der holländische Sinto Zoni Weisz erzählt seine Biografie


„Was auch passiert ist, was ich auch verlo­ren habe“, sagt Zoni Weisz: „Ich bin ein sehr glück­li­cher Mensch.“ und das, ob­wohl seit sei­ner Kind­heit ein schreck­li­cher Schat­ten über sei­nem Le­ben lag – seit dem 19. Mai 1944, als er als Sie­ben­jäh­riger mit­ansehen musste, wie seine Sinti-Fa­mi­lie vom La­ger Westerbork nach Auschwitz de­por­tiert wurde.

Er selbst entging dem Transport, dank einem niederländi­schen Polizisten, der ihm im letzten Mo­ment am Bahn­steig zur Flucht verhalf: „Wenn ich meinen Hut ab­nehme, musst du laufen, laufen!“, flüs­terte ihm der Polizist zu. Und Zoni lief los und rettete sich in einen los­rol­lenden Per­sonen­zug. In wech­selnden Ver­stecken über­stand er die folgen­den Monate – in den Wäldern, bei Bauern, in einer Molkerei, in steter Angst vor den deutschen Pat­rouillen. Doch Zoni über­lebte: „Die ganze Zeit“, sagt er, „war ein Engel auf meiner Schulter.“

Das alles erzählt der heute 80-Jährige ohne Skript, so direkt und anschau­lich, dass man sich wünscht, diese Doppel-CD stünde in jeder Schul­bibliothek. 120 Mi­nuten lang berichtet Zoni Weisz von den Etappen seines Lebens­weges: vom Kind­heits­idyll im Pferdwagen, das mit dem deut­schen Einmarsch ein jähes Ende fand; und vom „schwarzen Loch“, das folgte, als seine Familie ver­haftet wurde. „Alles, was wichtig ist in deinem Leben, ist weg!“

Aber Zoni schaffte den Neubeginn: Bald nach der Befreiung kam er als Aus­hilfs­kraft bei einem Floristen unter und fand dort, zwischen Blumen­gestecken und -ge­binden, seine Berufung. Unter­brochen nur von einem Militär­dienst im Urwald von Surinam, arbeitete sich Zoni Weisz mit eiserner Disziplin nach oben, vom Lehrbub bis zum führen­den Floristen seines Landes, dem 2002 sogar der Blumen­schmuck der königli­chen Hochzeit an­ver­traut wurde. Read the rest of this entry »

Der Völkermord und die Bundesrepublik

September 5th, 2023  |  Published in Geschichte & Gedenken, Literatur & Bücher, Politik, Rassismus & Menschenrechte, Recht & Gericht, Wissenschaft

Sebastian Lotto-Kusche: Cover 2022Sebastian Lotto-Kusche: Der Völkermord an den Sinti und Roma und die Bun­des­repub­lik. Der lange Weg zur An­er­ken­nung 1949–1990 (=Schrif­ten­rei­he der Viertel­jahres­hefte für Zeit­ge­schichte, 125), De Gruyter Ol­den­bourg, Berlin 2022, 264 S.

Die Studie untersucht die diskursiven Kämpfe um die Anerkennung des NS-Völker­mords an Sinti und Roma in der Bundes­republik bis 1990. Dabei wird unter An­erken­nung zweier­lei ver­standen: die Ak­zeptanz der Verbände der Sinti und Roma als legitime Gesprächs­partner der Bundes­regierung sowie die Be­wertung der „NS-Zi­geuner­ver­folgung‟ als „rassisch‟ moti­viertes Verbrechen in Politik und Wissen­schaft. Auf der Grund­lage um­fassenden Quellen­materials von Bundes­behörden und politischen wie zivil­gesell­schaft­li­chen Akteuren ent­steht eine Diskurs­geschichte dieses lang­wierigen An­erkennungs­pro­zesses. Sie zeigt, dass bis tief in die 1960er Jahre hinein ein durch und durch rassisti­sches Bild der na­tio­nal­sozialis­ti­schen Politik gegen Sinti und Roma vor­herrschte. Dieser Denkstil, der von traditio­nellen Vor­urteilen über „Zigeuner­kriminalität‟ ge­prägt war, geriet in den 1970er Jahren mit der Rezeption von inter­natio­na­len For­schungs­arbeiten im­mer stärker unter Druck. Doch erst in den 1980er Jahren begann mit der An­erken­nung der Sinti und Roma als Gesprächs­partner durch Bun­des­kanzler Helmut Schmidt auch die Er­forschung des NS-Mas­sen­verbrechens.

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