Odyssee am Balkan
Oktober 4th, 2023 | Published in Geschichte & Gedenken, Literatur & Bücher, dROMa (Magazin)
Aus dem dROMa-Archiv (68/2022):
Kindheitserinnerungen aus dem Krieg
Mirano Cavaljeti war einer der Großen auf den Operettenbühnen Europas. Bis zu seinem Bühnenabschied vor gut zwanzig Jahren trat der deutsche Tenor in 115 Theaterhäusern auf. Über seine Herkunft hielt er sich lieber bedeckt. Mit 89 Jahren hat er nun aber seine Lebensgeschichte veröffentlicht.
Hinter ihm liegt eine schillernde Karriere. Als umjubelter Tenor stand Mirano Cavaljeti-Richter mit vielen Stars auf der Bühne, mit Johannes Heesters teilte er die Garderobe, mit Milva reiste er durch Italien. Er brillierte in der „Zauberflöte“ ebenso wie im „Zigeunerbaron“. Vor allem das Operettenfach hatte es ihm angetan, hier feierte er seine größten Erfolge. Das Publikum lag ihm zu Füßen, auch in Österreich.
Fragen nach seiner Herkunft wusste Cavaljeti stets charmant auszuweichen. Oder er flunkerte, dass er eigentlich aus Südtirol stamme, und warf wie zum Beweis ein paar Brocken Italienisch hinterher. „Über die ganzen Jahre hinweg hielt ich an dieser Erklärung fest und glaubte schließlich fast selbst daran“, erinnert er sich. Kaum einer seiner Bühnenkollegen, und schon gar nicht das Publikum, wusste von seiner Sinti-Herkunft – und von den Schrecken seiner Kindheit.
Jetzt, mit beinahe 90 Jahren, hat er sich dazu durchgerungen, seine verschwiegene Lebensgeschichte zu Papier zu bringen. Unter dem Titel „Auf der Flucht über den Balkan“ liegen seine Erinnerungen, mit einem Nachwort versehen von der Historikerin Annette Leo, nunmehr in Buchform vor.
Über den Brenner
Darin erzählt der 1933 in Niedersachsen geborene Mirano Cavaljeti, der eigentlich Tenora Mirano Richter heißt, von seiner Kindheit in einer deutschen Sinti-Familie. Seine Eltern und Verwandten waren Komödianten, zogen mit Wohnwägen durch die Städte und Dörfer und führten Lustspiele und Varieté-Nummern auf. Es waren Shows voller Akrobatik, Tanz- und Gesangseinlagen: Da wurde Csárdás getanzt, eine Tante zeigte ihre Künste auf dem Tanzseil, und als Höhepunkt balancierte ein Großonkel 13 Stühle in der Luft. Und auch Mirano packte mit an und gab schon als Fünfjähriger pfiffige Couplets und einen „Kosakentanz“ zum Besten.
Dann aber begann sich die Spirale der NS-Verfolgung immer schneller zu drehen. Als die ersten Verwandten interniert wurden, entschloss sich die Familie 1939 letztendlich zur Flucht. Über den Brenner gelangte sie, mit gefälschten Papieren und viel Glück, über die Grenze nach Italien. Dort fanden sie Aufnahme bei einem Wanderzirkus, später bei einer Bärenführergruppe. Einige Zeit lang trat man gemeinsam auf. Doch dann wurde die Lage auch im faschistischen Italien zu bedrohlich, und die Familie zog – um Polizeikontrollen zu umgehen über steinige Nebenstraßen – weiter nach Kroatien.
Die Angst im Nacken
In beeindruckender Lakonie schildert Cavaljeti die dramatische Odyssee durchs zerteilte Jugoslawien, durch Rumänien und Bulgarien. Rastlos durchquerten sie das Hinterland, immer auf der Hut, nur ja keiner Patrouille in die Arme zu laufen. Überall wimmelte es von Militär: Wehrmacht und SS, Tschetniks und Domobrani, Ustascha, Kosaken und Partisanen. „Über diesen territorialen Flickenteppich bewegten sich Miranos Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten von 1942 bis 1944 – mal in kleiner Formation, mal als Großfamilie mit mehreren Wagen“, schreibt Annette Leo im Nachwort. Dabei umgingen sie Straßensperren und Kontrollpunkte, nutzten Schleichwege der Partisanen oder bestachen die Wachposten.
Sie zogen von Dorf zu Dorf und gaben Varieté-Vorstellungen. Wenn das Geld nicht reichte, tauschten sie bei den Bauern gebastelte Papierblumen gegen Essen ein; und manchmal blieb ihnen keine andere Wahl, als „mit Betteln ein paar Groschen zu verdienen“. Trafen sie auf deutsche Soldaten, gaben sie sich als Wanderbühne aus Südtirol aus, die beauftragt sei, die Besatzungstruppen zu unterhalten. Dann spielten sie vor johlenden Wehrmachtsoldaten und sogar SS-Männern – immer „mit der Angst im Nacken“, erkannt zu werden.
Eingebrannte Bilder
Im Frühjahr 1944 ging Miranos Familie den Nazis schließlich doch noch ins Netz. Der Deportation entgingen sie im letzten Moment, indem sie vorgaben, als „Freiwillige“ in ein Arbeitslager einrücken zu wollen. Daraufhin verbrachten sie die letzten Kriegsmonate als Zwangsarbeiter, geschunden und misshandelt, in einem Rüstungsbetrieb bei Marburg (Maribor). Das Chaos des Zusammenbruchs nützten sie zur Flucht.
Zwölf Jahre war Mirano, als sie ins zerbombte Deutschland zurückkehrten. Die grässlichen Szenen, die er als Kind – auf der Irrfahrt durch den Balkan – mitansehen musste, haben ihn nie mehr ganz losgelassen: Juden, die mit Gewehrkolben in Viehwaggons gestoßen wurden; an Strommasten aufgehängte Partisanen; Leichen, die im Fluss vorbeitrieben. Einmal gerieten sie in einen Partisanenhinterhalt und verloren alle Pferde und Wägen. Tags darauf wurden sie Zeugen eines Massakers der Wehrmacht, die ein ganzes Dorf auslöschte: „Tote lagen am Boden – auch Frauen mit offenen Augen.“
All das schildert der Autor ohne jede Verbitterung, ohne Groll, ohne Hass. Den „Glauben an das Gute im Menschen“ haben ihm diese Erlebnisse nicht austreiben können. „Der liebe Gott hat es so gut mit mir gemeint“, sagt er nur.
Von Roman Urbaner
Mirano Cavaljeti-Richter: Auf der Flucht über den Balkan. Die Kindheitserlebnisse eines Sinto-Jungen während der NS-Zeit (=Bibliothek der Erinnerung, Bd. 25), Metropol: Berlin 2022 (Verlagsseite)
Aus: dROMa 68 (Winter/Dschend 2022)