Odyssee am Balkan

Oktober 4th, 2023  |  Published in Geschichte & Gedenken, Literatur & Bücher, dROMa (Magazin)

Aus dem dROMa-Archiv (68/2022):

Mirano Cavaljeti (re.) und sein Bruder Harry, 1946 (Foto: Mirano Cavaljeti)Kindheitserinnerungen aus dem Krieg

Mirano Cavaljeti war einer der Großen auf den Operet­ten­bühnen Europas. Bis zu seinem Bühnen­ab­schied vor gut zwan­zig Jahren trat der deutsche Tenor in 115 Theater­häu­sern auf. Über seine Her­kunft hielt er sich lieber be­deckt. Mit 89 Jahren hat er nun aber seine Lebens­ge­schich­te ver­öf­fent­licht.

Hinter ihm liegt eine schillernde Karriere. Als umjubel­ter Tenor stand Mirano Caval­je­ti-Rich­ter mit vielen Stars auf der Bühne, mit Johannes Heesters teilte er die Gar­derobe, mit Milva reiste er durch Italien. Er bril­lierte in der „Zauberflöte“ ebenso wie im „Zi­geu­nerbaron“. Vor allem das Ope­retten­fach hatte es ihm angetan, hier feierte er seine größ­ten Erfolge. Das Publikum lag ihm zu Füßen, auch in Österreich.

Fragen nach seiner Herkunft wusste Cavaljeti stets charmant aus­zu­weichen. Oder er flunkerte, dass er eigent­lich aus Südtirol stamme, und warf wie zum Beweis ein paar Brocken Italienisch hinter­her. „Über die ganzen Jahre hin­weg hielt ich an dieser Er­klärung fest und glaubte schließ­lich fast selbst daran“, erin­nert er sich. Kaum einer seiner Bühnen­kollegen, und schon gar nicht das Publikum, wusste von seiner Sinti-Her­kunft – und von den Schrecken seiner Kindheit.

Jetzt, mit beinahe 90 Jahren, hat er sich dazu durch­gerun­gen, seine verschwie­gene Lebens­ge­schichte zu Papier zu bringen. Unter dem Titel „Auf der Flucht über den Balkan“ liegen seine Erin­nerun­gen, mit einem Nach­wort versehen von der Histo­ri­ke­rin Annette Leo, nun­mehr in Buchform vor.

Über den Brenner
Darin erzählt der 1933 in Niedersachsen geborene Mirano Cavaljeti, der eigent­lich Tenora Mirano Richter heißt, von seiner Kindheit in einer deut­schen Sinti-Fa­milie. Seine Eltern und Ver­wandten waren Komö­dianten, zogen mit Wohnwägen durch die Städte und Dörfer und führten Lust­spiele und Varieté-Num­mern auf. Es waren Shows voller Akro­batik, Tanz- und Ge­sangs­einlagen: Da wurde Csárdás ge­tanzt, eine Tante zeigte ihre Künste auf dem Tanz­seil, und als Höhe­punkt balan­cierte ein Groß­onkel 13 Stühle in der Luft. Und auch Mirano packte mit an und gab schon als Fünf­jähriger pfiffige Couplets und einen „Kosaken­tanz“ zum Besten.

Dann aber begann sich die Spirale der NS-Verfolgung immer schnel­ler zu drehen. Als die ersten Ver­wandten inter­niert wurden, ent­schloss sich die Familie 1939 letzt­endlich zur Flucht. Über den Brenner ge­langte sie, mit gefälsch­ten Papieren und viel Glück, über die Grenze nach Italien. Dort fanden sie Aufnahme bei einem Wander­zirkus, später bei einer Bären­führer­gruppe. Einige Zeit lang trat man gemein­sam auf. Doch dann wurde die Lage auch im faschisti­schen Italien zu bedroh­lich, und die Familie zog – um Polizei­kontrol­len zu umgehen über steinige Neben­straßen – weiter nach Kroatien.

Die Angst im Nacken
In beeindruckender Lakonie schildert Cavaljeti die dramatische Odyssee durchs zerteilte Jugo­slawien, durch Rumänien und Bulgarien. Rastlos durch­querten sie das Hinter­land, immer auf der Hut, nur ja keiner Pat­rouille in die Arme zu laufen. Überall wimmelte es von Militär: Wehrmacht und SS, Tschetniks und Domobrani, Ustascha, Kosaken und Par­ti­­sanen. „Über diesen ter­rito­ria­len Flicken­teppich be­wegten sich Miranos Eltern, Groß­eltern, Onkel und Tanten von 1942 bis 1944 – mal in kleiner For­mation, mal als Groß­familie mit mehreren Wagen“, schreibt Annette Leo im Nachwort. Dabei um­gingen sie Straßen­sperren und Kontroll­punkte, nutzten Schleich­wege der Partisanen oder be­sta­chen die Wachposten.

Sie zogen von Dorf zu Dorf und gaben Varieté-Vor­stel­lun­gen. Wenn das Geld nicht reichte, tauschten sie bei den Bauern ge­bastelte Papier­blumen gegen Essen ein; und manch­mal blieb ihnen keine andere Wahl, als „mit Betteln ein paar Groschen zu ver­dienen“. Trafen sie auf deutsche Soldaten, gaben sie sich als Wander­bühne aus Südtirol aus, die be­auf­tragt sei, die Be­satzungs­truppen zu unterhalten. Dann spielten sie vor joh­lenden Wehr­macht­soldaten und sogar SS-Männern – immer „mit der Angst im Nacken“, er­kannt zu werden.

Eingebrannte Bilder
Im Frühjahr 1944 ging Miranos Familie den Nazis schließ­lich doch noch ins Netz. Der Depor­tation ent­gingen sie im letzten Moment, indem sie vor­gaben, als „Frei­willige“ in ein Arbeits­lager ein­rücken zu wollen. Darauf­hin ver­brachten sie die letzten Kriegs­monate als Zwangs­arbeiter, ge­schunden und miss­handelt, in einem Rüstungs­betrieb bei Marburg (Maribor). Das Chaos des Zu­sammen­bruchs nützten sie zur Flucht.

Zwölf Jahre war Mirano, als sie ins zerbombte Deutschland zurück­kehrten. Die gräss­li­chen Szenen, die er als Kind – auf der Irrfahrt durch den Balkan – mit­ansehen musste, haben ihn nie mehr ganz los­ge­lassen: Juden, die mit Gewehr­kolben in Vieh­waggons gestoßen wurden; an Strom­masten auf­ge­hängte Partisanen; Leichen, die im Fluss vorbei­trieben. Einmal gerieten sie in einen Par­tisanen­hinter­halt und ver­loren alle Pferde und Wägen. Tags darauf wurden sie Zeugen eines Massakers der Wehrmacht, die ein ganzes Dorf aus­löschte: „Tote lagen am Boden – auch Frauen mit offe­nen Augen.“

All das schildert der Autor ohne jede Verbitterung, ohne Groll, ohne Hass. Den „Glauben an das Gute im Men­schen“ haben ihm diese Er­lebnisse nicht aus­treiben können. „Der liebe Gott hat es so gut mit mir ge­meint“, sagt er nur.

Von Roman Urbaner

Mirano Cavaljeti-Richter: Auf der Flucht über den Balkan. Die Kindheits­er­leb­nisse eines Sin­to-Jun­­gen wäh­rend der NS-Zeit (=Biblio­thek der Er­in­ne­rung, Bd. 25), Metro­pol: Berlin 2022 (Ver­lags­seite)

Aus: dROMa 68 (Winter/Dschend 2022)

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