Ukraine-Flüchtlinge: Glei­che Hilfe für alle!

März 6th, 2022  |  Published in Rassismus & Menschenrechte  |  2 Comments

Ukrainische Flüchtlinge werden beim polnischen Grenzbahnhof Przemyśl Główny versorgt (Foto: Pakkin Leung/Rice Post, CC-BY-4.0)Roma-Organisationen in Deutschland ver­öf­fent­li­chen fol­gen­den ge­mein­sa­men Of­fe­nen Brief:

Stoppt die Segregation der Flüch­ten­den aus der Ukrai­ne! Glei­che Rech­te und Hilfe für alle!

Die Bereitwilligkeit zur Aufnahme von Flüchten­den aus der Ukraine und die flexible Bereit­stellung von not­wen­digen Ressour­cen ist bei­spiel­los. So soll es sein – und zwar für alle! Doch Rassis­mus als struk­turelle Gewalt wirkt in jeder Situa­tion. In Zeiten der Flucht hat diese Gewalt existe­zielle Folgen. So wie in Staaten wird auch an Grenzen mit Men­schen unter­schied­lich um­ge­gan­gen. An der Grenze zwi­schen Belarus und Polen wurden im letzten Winter Men­schen derart blockiert, dass einige erfroren. Diese Flüch­tenden sind in Europa nicht will­kommen. Auch in den ver­gan­genen Tagen mehren sich Berichte, nach denen Schwarze und Men­schen of Colour aus rassistischen Gründen an der Weiter­reise gehindert werden und keine Unter­künfte be­kommen.

Eine Romni, mit der wir in Kontakt standen, hat es mit ihren Kindern nach Leipzig ge­schafft. Sie kam über die Slowakei. Über die Lage dort be­richtet Romea, die Unter­stützung für die Ge­flüchte­ten sei groß. „Jedoch wenn eine ukrai­nische Roma-Familie ankommt und um Hilfe bittet, wird sie zurück­ge­wiesen.“ Viele kommen nicht einmal aus der Ukraine raus. In sozialen Medien mehren sich die Berichte darüber. Zum Bei­spiel berichtet eine Romni aus Lviv, dass aktuell dort 100 Roma fest­sitzen und nie­mand ihnen hilft, weiter­zu­kommen.

Insbesondere Romnja und Roma aus Ex-Jugoslawien können sich an die Kriege und die Ver­treibun­gen erin­nern, bei denen Roma Ge­flüchtete zweiter Klasse wur­den. Schon auf der Flucht mit Rassismus kon­frontiert, ging dieser in Deutsch­land weiter. Bei Übersetzungen der Asyl­anträge, in Beratungs­stellen oder auch in Unter­künften wurden und wer­den Roma und Romnja von An­gehöri­gen der hiesigen, aber auch von An­gehöri­gen der Exil-Mehr­heits­gesell­schaften dis­krimi­niert.

Aus der Ukraine flüchten aktuell auch Romnja und Roma und wir befürch­ten, dass ihnen die gleichen Be­dingun­gen wie den Geflüch­teten aus Ex-Jugo­slawien be­vor­stehen. Denn auch die Situa­tion der Roma und Romnja aus der Ukraine ist historisch durch Verfolgung, einen Genozid und gegen­wärtig durch massi­ven Rassismus und zum Teil Pre­karisie­rung über Gene­rationen geprägt.

Während des Nationalsozialismus ermordete die deutsche Sicher­heits­polizei unte­stützt durch die ein­heimische Hilfspolizei einen Groß­teil der ukraini­schen Roma und Romnja. Gegen­wärtig sind trotz schlechter For­schungs­lage über 50 Mas­sen­erschie­ßungs-Orte bekannt. Letzt­lich verloren min­destens 12.000 Roma und Romnja das Leben unter der deutschen Be­satzungs­macht. Die Erinnerung an diesen an Roma und Romnja be­gangenen Genozid in der Ukraine wird haupt­sächlich von Romnja und Roma sowie inter­nationalen NGOs ge­tragen. Der ge­sell­schaftlich bis heute tra­dierte Rassismus führt regel­mäßig zur Relati­vierung des Völkermords.

Roma und Romnja sind laut einem ERRC-Bericht von 2018 die größte un­dokumen­tierte Gruppe in der Ukraine. Fehlende Dok­mente sind die Haupt­ursache für die Staaten­losig­keit von Romnja und Roma. Die meisten haben gesetz­lich den Anspruch auf die ukrai­nische Staats­angehörig­keit, können dieses Recht aber ohne Dokumente nicht durch­setzen. Diese Staatenlosig­keit ver­erben sie an ihre Kinder, so dass seit Jahr­zehnten ein Kreislauf trans­generatio­neller struk­tureller Dis­kriminierung fort­geführt wird.

Bereits bis 2015 flohen 10.000 Roma und Romnja in der Ukraine wegen der an­dauern­den Aus­einander­setzun­gen im Ostteil in andere Gebiete des Landes. In Krisen- und Vor­kriegs­situatio­nen be­kommen Minder­heiten­angehörige die Not und die Folgen eines eskalier­ten Nationalis­mus als erstes zu spüren.

2016: In der Region Odessa wird die Leiche eines Mädchens ge­funden. Ein 21-jähriger Rom wird verdächtigt, sie vergewaltigt und umgebracht zu haben. Ausreichende Ermittlungen gibt es nicht, und der Angeklagte bestreitet die Vorwürfe. Trotz­dem wollen Dorf­be­woh­ner:innen an den Roma und Romnja Rache üben. Hunderte Bewoh­ner:innen fordern Auto­ritäten auf, sofort alle Romnja und Roma aus dem Dorf zu ver­treiben. Videos zeigen, wie die Be­wohner:innen Fenster mit Steinen ein­schlagen, ein Haus geht in Flammen auf. Nach In­forma­tio­nen der Minority Rights Group (MRG) unter­nahm die Polizei nichts, um die An­grei­fer:innen zu stoppen. Ledi­lich gab sie bekannt, am Folgetag einen „sicheren Korridor“ für die Roma und Romnja ein­richten zu wollen, damit diese das Dorf ver­lassen könnten. Die Roma und Romnja jedoch flüch­teten bereits in der Nacht zuvor, um dem Mob zu ent­kommen.

2018 gab es in der Ukraine mindestens sechs rechte/rassisti­sche Pogrome gegen Roma und Romnja, die auch Todesopfer forder­ten. Mitglieder rechts­terroristi­scher Gruppen bil­deten unheil­volle Allianzen mit rassisti­schen Jugendlichen. Mit wenigen ande­ren protes­tierten wir inter­national vor den ukrainischen Bot­schaften, riefen die Politik zu entschiedenem Handeln auf, fanden jedoch kein Gehör. Die ukrai­nischen Romnja und Roma muss­ten fliehen.

Hinter diesen Pogromen steckt die Idee ethnisch homogener Gebiete. Im Kosovo hatte 1999 diese Idee die Ver­­treibung und mas­sive Ver­brechen gegen Roma und Romnja zur Folge.

Unter den Flüchtenden aus der Ukraine sind auch viele Romnja und ihre Kinder. Da wehr­fähige Männer nicht aus­reisen dürfen, trennen sich Familien. Aber allen, die aus­reisen wollen, muss die Ausreise ge­währt werden! 20 Pro­zent der ukrai­nischen Roma und Romnja sind staaten­los, haben also keine Reisepässe – dies darf der Ausreise und Auf­nahme in andere Staaten nicht im Wege stehen.

Mit dem transnationalen Netzwerk Afrique-Europe Interact treten wir ein für das un­beschränk­te Recht auf Flucht für alle, die aus Kriegs­gebieten flüchten, ohne An­sehen von Staats­an­gehörig­keit, Reisepass und Auf­enthalts­titel, und gegen jede Form rassisti­scher Aus­son­derung und Be­nach­teili­gung von Kriegs­ge­flüchteten.

Wir fordern von der Ukraine: Lasst alle Menschen ungehindert aus­reisen, die vor dem Krieg fliehen! Keine rassisti­sche Be­nach­teiligung bei der Ver­teilung von Plätzen in Zügen und an­deren Ver­kehrs­mitteln!

Wir fordern von den Nachbarländern der Ukraine: Lasst alle Flüch­tenden aus der Ukraine un­gehin­dert ein- und weiter­reisen, ohne Unter­scheidung nach Pässen, Visa und Auf­enthaltstiteln!

Wir rufen vor allem alle diejenigen, die sich in solidarischen Unter­stützungs­struk­turen für Flüchtende aus der Ukraine en­gagieren, auf: Unter­stützt gezielt auch alle die­jenigen bei der Ein- und Weiter­reise, denen rassist­ischer Aus­schluss droht!

Wir brauchen sprachkundige und rassismussensible Beratung für geflüchtete Romnja und Roma aus der Ukraine und die Ein­beziehung der migran­tischen Roma-Selbs­organi­sa­tionen, um die Men­schen an­gemessen beraten zu kön­nen. Unserer Erfahrung nach gibt es zu wenig Anlauf­stellen für Minder­heiten­angehö­rige, deren Aus­gangslage aufgrund rassisti­scher Diskri­mi­nierungen im Herkunfts­staat, auf der Flucht sowie bei und nach der An­kunft komplexer ist.

Erstunterzeichnende:

Bundes Roma Verband e.V.
Roma Center e.V./ Roma Antidiscrimination Network
RomaniPhen e.V.
Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg e.V.
Rroma Informations Centrum e.V.

Wer den Aufruf mitzeichnen möchte, melde sich bei RAN mit dem Namen der Organisation.

Responses

  1. dROMa-Blog | Weblog zu Roma-Themen | Zuflucht für ukrainische Roma in Ungarn says:

    März 19th, 2022 at 11:11 (#)

    [...] wegen des Krieges die Ukraine verlas­sen, erfah­ren Dis­krimi­nie­rung sogar auf der Flucht (mehr hier). Bei Teca Orgován in Tiszabecs, Ungarn, müs­sen sie das nicht be­fürchten. Sie [Anm. d. Red.: [...]

  2. dROMa-Blog | Weblog zu Roma-Themen | Roma am Pranger in der Ukraine says:

    März 26th, 2022 at 12:16 (#)

    [...] Ländern. In den Län­dern, in die sie fliehen, geht die Diskriminierung weiter (mehr hier) Dass sie jetzt auch noch be­schuldigt werden, „Flüch­tende“ zu be­stehlen, trägt [...]