Angriff auf Roma-Siedlung in Kiew
April 29th, 2017 | Published in Rassismus & Menschenrechte | 2 Comments
„Erzähle bloß niemandem, dass ich Rom bin!“
Von Mitya Gerasimov (Pushkin Klezmer Band), für tapferimnirgendwo.com aus dem Russischen übersetzt von Lisa Piesek
Ein wunderbarer Musiker sagte mir, als wir uns kennenlernten: „Erzähle bloß niemandem, dass ich Rom bin! In der Stadt weiß das keiner, ich sage allen, ich sei Jude.“
Anfang April kamen Maskierte in die Romasiedlung (Schatra) in Kiew. Sie kamen im Morgengrauen, fotografierten alle Bewohner und nahmen Fingerabdrücke. Sie bedrohten die Menschen und befahlen ihnen, sich zu verziehen. Man schreibt, diese Razzia sei autorisiert gewesen. Die netten Schläger haben kostenlose Bus- und Zugtickets ohne Rückfahrt verteilt, die meisten Bewohner flohen nach Transkarpatien. Aber man sagt, dass auch viele in Kiew überdauern wollen und sich zur Zeit verstecken. Die Schatra hatte sich bald geleert, und als sie ein paar Tage später angezündet wurde (wir berichteten), waren nur noch wenige Frauen und Kinder vor Ort.
Die Initiative zur Deportation ortsansässiger Roma stammt von lokalen Abgeordneten, Aktivisten und Strafverfolgungsbehörden. Der Einsatz wurde im Voraus geplant, bei Facebook besprach man Probleme, die mit der Lösung der „Zigeunerfrage“ einhergehen, die Organisatoren schrieben von der Verantwortung des „Titularvolkes“ und luden engagierte Aktivisten in ihre Bürgersprechstunde ein, einige delikate Details könne man nicht öffentlich erörtern.
Dieses Mal wurde die Schatra in Kiew unter dem Vorwand der Vorbereitung zum Eurovision Song Contest verwüstet, das letzte Mal geschah es im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft 2012. Die Roma sind nicht die Einzigen, die das Bild einer europäischen Ukraine verschandeln. Vor der EM wurden auch sehr viele Straßenhunde in Kiew abgeschlachtet, damals wurde überall darüber geschrieben. Die deutsche Nationalmannschaft lief unter Protest auf und es fanden etliche Tierschutzdemos in Europa statt. G-ttseidank ist damals niemand auf die Idee gekommen, die Roma umzubringen, aus diesem Grund ist wohl auch der internationale Aufschrei ausgeblieben.
Solche Sondereinsätze haben eine lange Tradition. Die sowjetischen Städte wurden im Vorfeld von Großveranstaltungen oder hohen Besuchen veredelt, indem man die Straßen von „antisozialen Elementen“ säuberte. Vor den Olympischen Sommerspielen 1980 wurden Dissidenten, Arbeitslose, Bettler, Prostituierte und Alkoholiker aus Kiew, Moskau Leningrad und Minsk deportiert. Auch die Roma waren damals betroffen.
Nach dem 2. Weltkrieg haben viele verstümmelte Veteranen das Straßenbild bestimmt. Sie wurden eingefangen und auf die Gefängnisinseln Solowezki verbracht, damit sie mit ihrem erbärmlichen Aussehen das stolze Bild des Sowjetmenschen nicht verunglimpfen. In den Dreißigerjahren wurde unter dem Vorwand, die Bettelei zu bekämpfen, ein Großteil der traditionell nomadisch lebenden ukrainischen Nationalbarden (Kobsaren) vom Tscheka entführt und ermordet.
Die jüngste Liquidierung der Romasiedlung bekam keine große gesellschaftliche Resonanz. Abgesehen vom Jubel der Anwohner in direkter Nachbarschaft zur Siedlung. Jahrelang mussten sie die wenig angenehmen Nachbarn erdulden und jetzt bedanken sie sich lautstark bei ihren „Befreiern“. Kurz nach dem Brand in der Schatra wurde die Visumspflicht für die Ukrainer von der EU aufgehoben. Die Ukraine ist endlich in Europa angekommen!
Was soll man sagen: wer will schon Roma als Nachbarn haben? Den Zorn der Menschen kann man ja verstehen. Sie haben Angst um ihre Sicherheit, um die Sicherheit ihrer Kinder. Ja, das Kriminalitätsniveau ist hoch. (Anm. Lisa Piesek: Mein Freund Mitya Gerasimov ist da leider selbst auf ein Vorurteil hereingefallen. Laut Polizeiangaben wurde im letzten Jahr lediglich ein Ermittlungsverfahren gegen einen Bewohner des Lagers eröffnet.) Die Passanten werden von den Bettlern belästigt. Manchmal wird gestohlen, auch Drogen sind weit verbreitet. Die Bullen schauen im besten Fall weg, im schlimmsten Fall kurieren sie die Kriminellen und wollen am Geschäft teilhaben. Sozial- und Bildungsinitiativen sind unpopulär, denn das ist eine langwierige und harte Arbeit. Die Kinder aus der Siedlung haben eine Spezialschule besucht, dieser Möglichkeit wurden sie jetzt beraubt. Die kleinen Erfolge fallen wenig auf, es ist schwer, politisches Kapital daraus zu schlagen. Radikale Aktionen bringen dagegen einen ordentlichen Beliebtheitsschub.
Es ist wahr, dass die Abgeordneten, die die Roma vertrieben haben, einen großen Rückhalt der „ordentlichen“ Nachbarn genießen. Oft führen sie diese Unterstützung an, um für die eigene Rechtschaffenheit zu argumentieren. Aber auch die „Endlösung“ der Roma- und Judenfrage 1941 wurde sicherlich von einigen ehrbaren Kiewer Bürgern mit Enthusiasmus aufgenommen. Und wie sehr haben sich die Anständigen wohl nach dem Krieg gefreut, als in einer Nacht Tausende dieser stinkenden schreienden Stümpfe, die obdachlosen Krüppelveteranen, aus der Stadt verschwanden. Auch damals sagte man wohl: „Endlich ist es nachts wieder sicher auf den Straßen.“
Die Roma sind eine der am wenigsten geschützten Gruppen in unserer Gesellschaft. Natürlich sind sie nicht die Einzigen. Aber man erinnert sich ab und zu an die Rechte der Krimtataren (und auch das erst nach der Annexion der Krim) und eine öffentliche antisemitische Bemerkung ruft sofort einen Sturm der Entrüstung hervor. Auch die LGBT-Parade in Kiew konnte vor den Angriffen des Schlägerabschaums beschützt werden. Aber die Probleme der Roma tauchen im öffentlichen Diskurs gar nicht erst auf. Nur wenige Bürgerrechtsaktivisten setzen sich für sie ein, Politikern bringen sie keinen Nutzen. Man hasst und fürchtet sie einfach. Fälle von Diskriminierungen, Pogromen und Morden werden von niemandem untersucht.
Selbst bekannte Vertreter der Romakultur, wie Igor Krikunov und Petr Cherny, wollen lieber nicht mit den gewöhnlichen „unintellektuellen“ Schatraroma assoziiert werden. Letzterer ließ sich sogar von den Vertretern der „Titularnation“ einspannen und reiste nach der Razzia in die Siedlung, um die Gebliebenen zum Auszug zu überreden. Damit wollen die Aktivisten wohl zeigen, dass sie keine Nazis sind: „Schaut her, es gibt auch gute Zigeuner und sie sind mit uns befreundet!“
Eine ethnische Gruppe darf niemals für die Verbrechen einzelner Mitglieder bestraft werden. Dafür müssten eigentlich diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die sich rechtswidrig an der ethnischen Gruppe und ihren Mitgliedern vergreifen. Wurde eigentlich jemand nach den Pogromen in der Nähe von Odessa* im letzten Jahr vor Gericht gestellt und verurteilt? Die korrupten Polizisten, Politiker und Aktivisten, die Kiew 2012 und 2017 von den Roma säuberten, Menschen bedrohten, Häuser anzündeten, ganze Familien entführten, um sie irgendwo in der Landschaft auszusetzen, wann wandern die endlich in den Knast? Warum kann unser Bürgermeister-Schmürgermeister dem Treiben der Faschoabgeordneten nicht Einhalt gebieten, falls die aktuellen Einschüchterungen und Säuberungen wirklich nur ihrer Privatinitiative entstammen? Oder wurden sie vielleicht doch aus dem Rathaus befohlen?
*) Anmerkung von Lisa Piesek: Vor einem Jahr gab es in einem Dorf in Bessarabien, in dem etliche Ethnien seit Jahrhunderten friedlich zusammenlebten, einen grausamen Mord an einem neunjährigen Mädchen. Der Verdächtige, Sohn einer Bulgarin und eines Roms, stritt die Tat ab. Kurz nach seiner Festnahme rottete sich ein Mob aus ca. 300 aufgebrachten Dorfbewohnern zusammen und veranstaltete ein Pogrom gegen die Romagemeinde. Fensterscheiben und Möbel wurden zerschlagen, ein Haus wurde angezündet. Laut offiziellen Angaben wurde niemand verletzt. Später wurde die gesamte Gemeinde unter Polizeischutz aus dem Dorf deportiert.
Über den Autor: Mitya Gerasimov ist Journalist, Musiker und Gründer der ukrainischen Puschkin Klezmer Band. Er ist in der Republik Tatarstan geboren und aufgewachsen und lebt seit neun Jahren in der Ukraine, wo er das kulturelle Erbe osteuropäischer Juden und anderer Ethnien erforscht. Mitya Gerasimov arbeitet mit Musikern aus aller Welt zusammen. 2013 und 2014 unterstütze er die Massenproteste in der Ukraine und trat auf dem Maidan auf.
(Text: tapferimnirgendwo.com)
Mai 1st, 2017 at 17:17 (#)
[...] Bleiberecht möchte auf einen Artikel von dRoma aufmerksam machen. Der Artikel wurde von Mitya Gerasimov verfasst. Dabei geht es um Übergriffe [...]
Mai 16th, 2017 at 14:17 (#)
[...] auch: Roma-Siedlung in Kiew niedergebrannt, 22.4.2017 Angriff auf Roma-Siedlung in Kiew, [...]