Gerichtsurteil wegen Vertreibung in 45 Fällen
September 23rd, 2020 | Published in Rassismus & Menschenrechte, Recht & Gericht | 1 Comment
Urteil nach Fackelwurf in Deutschland: Bedingte Haftstrafen nach rassistischem Angriff auf französische Roma/Sinti in Baden-Württemberg. Am Abend des 24. Mai 2019 hatten die fünf Täter eine brennende Fackel in Richtung der Wohnwägen geschleudert (wir berichteten hier, hier und hier).
Im Ulmer Prozess um einen antiziganistischen Anschlag im Mai 2019 wurde heute nach 16 Verhandlungstagen das Urteil über die fünf Angeklagten verkündet. Alle fünf wurden wegen Vertreibung bzw. gemeinschaftlicher Nötigung in 45 Fällen nach Jugendstrafrecht verurteilt. Alle Strafen wurden auf Bewährung ausgesetzt. Die Kammer betonte, dass die Motivation der Tat Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antiziganismus gewesen sei. Auch zum jetzigen Zeitpunkt wiesen die Angeklagten diese Neigungen auf. Für eine Verurteilung wegen versuchten Mordes und versuchter Brandstiftung hätten objektive Indizien gefehlt. Alle Angeklagten wurden verpflichtet, die KZ-Gedenkstätte Dachau zu besuchen und danach einen zehnseitigen, handschriftlichen Bericht anzufertigen über ihre Erfahrungen, Gefühle und Eindrücke. Zwei der Angeklagten wurden dazu verurteilt, Geldstrafen in Höhe von 1.200 Euro an die „Hildegard Lagrenne Stiftung“ zu zahlen. Die Stiftung wurde 2012 von Angehörigen der nationalen Minderheit der Sinti und Roma gegründet und setzt sich für Bildung, Inklusion und Teilhabe von Sinti und Roma in Deutschland ein.
Die Nebenklage kann mit dem Urteil leben, weil das Gericht die antiziganistische Hassmotivation klar benannt hat.
Dr. Mehmet Daimagüler, Vertreter der Nebenklage
Das war die erste Verurteilung wegen gemeinschaftlicher Nötigung aus rassistischen Motiven auf deutschem Boden nach 1945.
Daniel Strauß, Vorstandsvorsitzender des VDSR-BW
Dieser Fall zeigt, dass Antiziganismus in der Gesellschaft weit verbreitet ist und als Normalität wahrgenommen wird. Genau das ist das gefährlich.
Romeo Franz MdEP
Der Landesverband Baden-Württemberg war an allen Verhandlungstagen als Beobachter anwesend und hat sich seit Beginn der Verhandlung auch mit politischen und religiösen Vertretern von Erbach-Dellmensingen und Erbach auseinandergesetzt, wo die Tat stattgefunden hatte. Ein Treffen für einen Runden Tisch zusammen mit dem Antisemitismusbeauftragten des Landes Baden-Württemberg Dr. Michael Blume steht noch aus. Gleichzeitig zum Prozess setzte sich der Landesverband auch für die Eröffnung einer Beratungsstelle für Sinti und Roma in Ulm ein. Diese wurde am 22. September 2020 zusammen mit Oberbürgermeister Gunter Czisch und Ministerialdirigentin Prof. Dr. Birgit Locher-Finke, Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg, eröffnet. Auch möchte der VDSR-BW weiter in der Region aktiv bleiben und sich für politische Bildungsarbeit explizit in ländlichen Regionen einsetzen.
(Text: Landesverband Baden-Württemberg)
Siehe auch:
„Unser ganzes Dorf ist ziemlich rechts“, 20.5.2020
Erbach: Verhaftungen nach Brandanschlag, 18.7.2019
Deutschland: Angriff auf Roma-Wohnwagen, 5.6.2019
September 29th, 2020 at 18:10 (#)
[...] Am 24.05.2019 fuhr ein dunkler Kleinwagen an dem Wiesengelände in Erbach-Dellmensingen in der Nähe von Ulm vorbei, wo mehrere Familien, Roma-Angehörige, mit ihrem Wohnwagen standen. Die Insassen des Kleinwagens riefen antiziganistische Parolen und warfen eine brennende Fackel in Richtung des Wohnwagens einer Familie. Diese verfehlte ihr Ziel nur knapp. Die Ulmer Polizei nahm fünf Tatverdächtige vorläufig fest. Gegen zwei der Beschuldigten bestand bereits ein Haftbefehl. Ab Juli 2019 saßen vier der fünf Angeklagten für zehn Monate in Untersuchungshaft. Der fünfte Angeklagte war zum Tatzeitpunkt minderjährig und saß für viereinhalb Wochen in Untersuchungshaft. Bei den Tätern handelt es sich um eine gewaltbereite Gruppierung, die der Fußball-Szene angehört. Alle fünf Angeklagten gaben vor Gericht an, dass sie die Personen aus Erbach-Dellmensingen am 24.5.2019 vertreiben wollten, was ihnen auch gelang. Der Staatsanwalt forderte Haftstrafen für vier der fünf Angeklagten wegen versuchten Mordes und versuchter Brandstiftung nach dem Jugendstrafrecht. [Anm.: Am vergangenen Mittwoch erging das Urteil: Die Täter wurden wegen Vertreibung bzw. gemeinschaftlicher Nötigung in 45 Fällen zu bedingsten Haftstrafen verurteilt (wir berichteten).] [...]