Sprache: Triumph des Willens

Juli 18th, 2023  |  Published in Romani, dROMa (Magazin)

Unterricht: Kinder in Elda (Alicante) lernen einige Wörter Caló, 2023 (Foto: CEIP Virgen de la Salud)Das Caló – die Sprache der Gitanos

Im Gegensatz zu vielen anderen Sprachen, die be­drängt und ver­drängt wurden, hat sich das Romani der Gitanos nicht ein­fach auf­ge­löst. Statt­dessen hat es in Spanien in neuer Form, als so­ge­nann­te Misch­spra­che, über­dauert.

Je nach Umgebungssprache (Spanisch, Katalanisch, Bas­kisch) ent­stand so in Spanien ein ganzer Strauß an Sprachen: das spani­sche Caló, das Caló catalán in Katalonien und das Erromintxela im Baskenland. Von Spanien aus ge­langte das Caló auch nach Portugal (Calão), nach Süd­frankreich und Lateinamerika, wo es eigene Wege ein­schlug.

Dieser Vorgang fasziniert die Wissenschaft bis heute; nicht zuletzt, weil er sich in ähn­licher Weise auch in anderen Rand­ge­bieten Europas, in Groß­britannien oder Skan­dinavien, voll­zog. Der Begriff der Sprach­wissen­schaft hierfür ist Pararomani. Das sind Sprachen, die zwar ihre alte gram­mati­ka­lische Struktur auf­ge­ge­ben, ihren Roma­ni-Wort­schatz aber in großen Teilen bei­be­halten haben: Gram­matik und Lexik (Wortschatz) stammen aus unter­schied­li­chen Sprachen.

Heute ist das einstige Caló meist nur noch in Resten vorhan­den und manche Kom­men­ta­toren sehen es bald völlig ver­schwinden. Aber das hieß es bereits vor 200 Jahren, als sich die ersten – von der Romantik in­spirier­ten – Sprach­forscher für die geheim­nis­volle, ver­meint­lich ster­bende Sprache der Gitanos zu interes­sieren be­gannen. Als bloße „Ruinen einer Sprache“ be­zeich­nete sie etwa der britische Missionar und Philologe George Borrow, der 1837 das Lukas­evangelium ins Caló über­setzte.

Überlebt
Und trotzdem hat diese Sprache bis in unsere Tage überlebt. Doch wie viel des Caló ist tat­sächlich heute noch präsent? Eine rudi­men­täre Antwort gab 2015 eine Be­fragung von Gitanos in Andalusien. Aus einer Wörter­liste, die rund 360 Einträge um­fasste, waren den Gitanos im Durch­schnitt immer­hin fast 40 Prozent be­kannt – weit mehr, als die Forscher er­wartet hatten.

Allerdings zeigte sich auch, dass die Caló-Kompetenz der jüngsten Alters­gruppe deutlich hinter jener ihrer Eltern und Groß­eltern zurück­blieb. Ein Großteil der Älteren be­herrschte zumindest 150 der ab­ge­fragten Vokabeln, einzelne Sprecher kamen sogar auf bis zu 250. Und viele der Befragten über­raschten während des Interviews mit wei­teren Wörtern, die im Frage­bogen gar nicht ver­zeichnet waren.

Alles in allem schätzen die Autoren das lebendige Vokabular des Caló (ab­ge­sehen von der Fülle an Caló-Lehn­wör­tern, die den Weg ins Spanische ge­funden haben) auf rund 400 Wörter. Doch nur ein Grund­bestand von einigen Dutzend ist tat­sächlich fast allen, auch den Jüngeren, geläufig. Dazu zählen bei­spiels­weise: Undibel/Undebel/Debel (Gott), lache (ge­spro­chen: latsche; Scham, Schande), quer (Haus), balichó (ges­pro­chen: balitschó; Schweine­fleisch), gachó (ge­spro­chen: gatschó, Nicht-Gitano), (en)dicar/diquelar (sehen) – al­le­samt Wörter, denen man zum Beispiel un­schwer ihre Ver­wandt­schaft mit den Aus­drücken im Burgen­land-Ro­mani in Öster­reich ansieht: Del, ladsch, kher, balitscho/balo (Schwein), gadscho, dikel.

Ein- und Ausschluss
„Die Gitanos sprechen heute weiterhin Caló“, so der Soziologe Nicolás Jiménez, „weil es von den meisten als Sprache unserer Gemein­schaft an­erkannt wird.“ In ihren Augen ist das Caló das Erbe ihrer ver­schwun­denen uralten Roma-Sprache – aller­dings ohne dass es für sie den Status einer voll­um­fängli­chen Sprache ein­nähme. Auch die Kinder wachsen nicht mit Caló als Mutter­sprache auf. Für den all­täg­lichen Infor­mations­aus­tausch oder längere, komplexe Er­zählungen bleibt man lieber beim Spanischen oder Kata­lanischen.

Der Gebrauch des Caló beschränkt sich heute zumeist auf be­sonde­re Situa­tionen. Häufig fungiert es dann als Ausdruck und Be­kräfti­gung von ethnischer Zu­ge­hörig­keit. „Es stimmt zwar, dass sich seine Ver­wendung auf immer kleinere Bereiche reduziert (Familie, Familien­feiern, soziale Inter­aktion mit anderen aus der Com­munity usw.), aber das ändert nichts daran, dass es nach wie vor einen großen iden­titäts­stif­ten­den und emotio­nalen Wert bewahrt hat“, so Ji­ménez: „Es dient dazu, uns als Gitanos gegen­über anderen Gitanos zu er­kennen zu geben.“ Das Caló fungiert dann als Selbst­identifikation ebenso wie als Be­ziehungs­signal. Indem es an die gemein­same Gruppen­identität ap­pelliert, öffnet es Herzen und Türen. Doch selbst in dieser Hinsicht hat das Caló – in den vielen evangelika­len Gitano-Ge­mein­den – an Be­deutung ein­ge­büßt. „Neuer­dings braucht man oft nur auf Spanisch einige Floskeln zur Glaubens­ge­meinde fallen lassen, und schon findet man Zugang“, er­klärt Jiménez.

Umgekehrt dient das Caló natürlich auch der Abgrenzung. Etwa in Situatio­nen, in denen man interne An­gelegen­heiten be­spricht, die nicht für fremde Ohren bestimmt sind. Als „geheime“ Sprache schirmt es die Gruppe vor Außen­ste­henden ab – „damit die Leute um uns herum nicht wissen, wo­von wir sprechen“.

Rätselhafter Ursprung
Darin ähnelt Caló zwar den Geheimsprachen (Kryptolekten) anderer mar­ginali­sier­ter Gruppen, bei­spiels­weise dem Rotwelsch. Aber anders als diese braucht es keine kreativen Ver­schleierun­gen, um Wörter un­kennt­lich zu machen – ganz einfach, weil sein Romani-Vo­ka­bular sowieso nicht ver­standen wird. Auch mit den Kreolsprachen wurde das Para­romani in Ver­bindung gebracht. Im Gegen­satz zu diesen bildete das Caló jedoch keine eigen­ständige, neue Gram­matik aus, die sich von allen Ausgangs­sprachen unter­scheidet. Statt­dessen finden wir beim Caló eine Ver­flechtung von Roma­ni-Wort­schatz und spa­nischer, katala­nischer oder baskischer Grammatik.

Über die Frage, wie, wann und warum sich die Pararomani-Spra­chen heraus­gebildet haben, zerbricht sich die Wissen­schaft bis heute den Kopf. Noch immer ist man sich uneins, ob man es mit einem graduel­len Prozess zu tun hat, in dem nach und nach Elemente der Gram­matik der Kontakt­sprache ins Romani ein­flossen. Oder ob die Romani-Spre­cher den neuen gram­ma­tikali­schen Rahmen – ab einem gewissen Punkt – dann gleich in Bausch und Bogen über­nahmen. Wie am Ende eines so breiten Ent­lehnungs­pro­zesses aus­ge­rechnet der Wortschatz er­halten bleiben konnte, gibt jedenfalls Rätsel auf. Denn wenn einige frühe Lehnwörter eine Trans­formation an­ge­stoßen hätten, die schließ­lich sogar die gesam­te Grammatik erfasst hätte, wäre das Ergebnis keine Mischsprache, son­dern ein Sprachaustausch.

Die U-Turn-Hypothese
Eine mögliche Erklärung ist das Wiederaufgreifen des Romani-Vo­ka­bulars. Mit dem Sprach­verlust begann dem­nach eine jüngere Generation, sich an die noch am leich­testen fass­baren Elemente zu klammern: das Vokabular, das sie von ihren Eltern und Groß­eltern noch kannten. Während die Grammatik auf­ge­geben wurde, fand eine Rück­besinnung auf die Romani-Lexik statt. Hinter dieser erfolg­reichen Kehrt­wende stand also eine be­wusste Ent­scheidung – eine gemein­schaft­liche Neu­orientie­rung in der Absicht, die Identität zu er­halten. Der Verlust des Romani, eine Folge von Sprach­verboten und Assimi­lation, wurde gestoppt und um­ge­kehrt, wenn auch nur in einem Teil­bereich. Auf diese Weise formte sich das Caló als „kollekti­ve Schöpfung der spani­schen Roma“ (Nicolás Jiménez).

Die ersten Roma in Spanien scheinen ihr ursprüngliches Romani schon sehr früh, nur einige Genera­tionen nach ihrer Ankunft, aufgegeben zu haben. Ver­zeichnisse aus dem 17. Jahr­hundert ent­halten bereits Roma­ni-Wörter mit spanischen End­ungen: frühe Belege für den Übergang zu Pararomani. In Katalonien hin­gegen dürfte ein weit­gehend intaktes, alter­tüm­liches Romani viel länger Bestand ge­habt haben. Erst im 19. Jahr­hundert be­schleunigte sich auch dort die Trans­for­mation zu Para­romani; und sogar noch nach 1900 fanden sich im katalani­schen Caló alte Plural­endungen des Romani.

Wiederbelebung
In den 1990er Jahren gab es ernsthafte Bestrebungen, das schwächeln­de Caló in eine neue Standardv­ariante zu überführen. Dieses so­ge­nannte Romanó-Kaló (oder Neorromaní ibérico) sollte sich wieder an der ur­sprüng­li­chen Roma­ni-Gram­matik orien­tieren, aber zugleich charak­te­ris­tische Elemente des Caló bei­be­halten. Die treibende Kraft hinter diesem Re­kon­struk­tions­versuch war der Gitano-Po­li­tiker Juan de Dios Ramírez-Heredia. Er er­ar­beitete eine auf euro­päi­schen Roma­ni-Va­rian­ten fu­ßende Gram­matik und ein Kon­ver­sa­tions-Hand­buch. Doch so recht vom Fleck kam diese Initiative nie.

Neben dem Elitenprojekt einer Romani-Rekonstruktion gab es immer wieder auch gut gemein­te Versuche, dem gegen­wär­ti­gen Caló – mit im­pro­visier­ten Sprach­unter­lagen und sogar Kursen – neues Leben ein­zu­hauchen. Doch diese Vorstöße schei­terten allesamt an „metho­di­schen Mängeln“ und „viel Dilettantis­mus“, wie es die Linguis­ten Krinková und Buzek for­mulierten.

Dabei stünden die Dinge für eine Wiederbelebung gar nicht so schlecht. Gerade auch junge Gitanos zeigen – trotz schwin­den­der Sprach­kom­petenz – eine enge emotio­nale Ver­bunden­heit mit dem Caló. Und die positive Iden­ti­fi­kation mit der Sprache gilt als Schlüssel­kriterium für die Erfolgs­aus­sichten solcher Initia­tiven. Eine große Studie, die Jugend­liche zu ihren Ein­stel­lungen gegenüber dem Caló befragte (Andersson, 2010), gelangte jeden­falls zu einem durchaus optimis­tischen Schluss: „Versuche, die Sprache wieder­zu­beleben, hätten eine ein­deutige Chance, tat­säch­lich erfolg­reich zu sein.“ Es wäre in der Ge­schichte der Gitanos nicht das erste Mal.

Aus der Begegnung

Es kann sein, dass die spanischen Roma das Caló aufgrund ihrer Be­zie­hung zur Welt der Nicht-Roma ge­schaf­fen haben. Es sei daran er­innert, dass in Spanien – trotz der Ver­fol­gung – der Grad der Integra­tion der Gitanos in die Mehr­heits­gesell­schaft und -kultur höher ist als in ande­ren Ländern, nicht nur in unserem Umkreis, son­dern mög­licher­weise sogar in der ganzen Welt. Mit anderen Worten: Das Caló ent­stand aus dem Zu­sammen­wachsen, aus der Be­geg­nung zwi­schen Payos (Nicht-Gitanos) und Gitanos.

Nicolás Jiménez, Soziologe und Gitano-Aktivist

Von Roman Urbaner

Aus: dROMa 69, Frühling/Terno linaj 2023
(→
Themenheft/temakeri heftlina  Spanien/Espanija)


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