Tilman Zülch gestorben

März 21st, 2023  |  Published in Ehrungen & Nachrufe, Einrichtungen, Rassismus & Menschenrechte

Tilman Zülch (Foto: GfbV.de)

„Am 17. März starb unser Gründer und Vereinsvater, Freund und lang­jäh­ri­ger Initia­tor unse­rer Men­schen­rechts­kam­pagnen, Tilman Zülch, im Alter von 83 Jahren in Göttingen. Wir sind tief be­trof­fen über diesen Verlust. Mit unse­ren Ge­danken sind wir bei seinen An­ge­höri­gen und Freun­den in al­ler Welt“, teilt Burkhard Gauly, Bun­des­vor­sitzen­der der Ge­sell­schaft für be­droh­te Völker mit.

Tilman Zülch war ein Visionär der Menschenrechtsarbeit. Sein Blick auf das Schick­sal von ver­folgten ethni­schen und religiö­sen Minder­heiten sowie indigenen Völkern, sein selbst­loses Engage­ment gegen Völke­rmord und Ver­treibung stehen heute beispiel­haft für inter­natio­nale Men­schen­rechts­arbeit. Denn die letzten Jahr­zehnte haben gezeigt, dass ge­rade Minder­heiten, Völker ohne Staat und indi­gene Völker oft­mals schutzlos der Ver­folgung und Be­drohung, gar der Ver­nichtung aus­ge­setzt sind. Dass sie eine inter­natio­nale Lobby brauchen, die vehe­ment für sie eintritt, war eine der Grund­über­zeu­gungen von Tilman Zülch. Für ihn, ge­boren in Deutsch-Liebau, mit seiner Familie ver­trieben und ge­prägt durch die Er­fahrun­gen des National­sozialis­mus und der Nach­kriegs­zeit, stand fest, dass das Wissen um die Shoa dazu ver­pflichtet, heute Ver­ant­wortung zur Ver­hinde­rung von Genozid und Gewalt zu über­nehmen. Diese Prin­zipien und Til­man Zülchs Haltung, den Men­schen in den Blick zu nehmen, Empathie zu em­pfinden und zu zeigen, auch selbstlos Men­schen in Not zu helfen, werden wir als Gesell­schaft für be­drohte Völker in unserem täg­li­chen Einsatz für Ver­folgte in aller Welt be­herzigen.

Aktion Biafra-Hilfe“,

Gemeinsam mit Klaus Guercke gründete Tilman Zülch 1968 die „Aktion Biafra-Hilfe“, aus der die Gesell­schaft für be­drohte Völker (GfbV) hervor­ging. Diese setzte sich für die zehn Millio­nen An­ge­hörigen des Ibo-Volkes ein, die von der nigeria­ni­schen Regierung mit militä­rischer Unter­stützung der Sowjetunion und Groß­britan­niens einer Hunger­blockade aus­gesetzt wurden. Mit der kirch­li­chen Luftbrücke flog Zülch in den Biafra-Kes­sel und wurde direkter Zeuge des Aus­hungerns, dem zwei Millio­nen Men­schen zum Opfer fielen. Im Okto­ber 1968 hielt Günter Grass eine viel be­achtete Rede auf der ersten gro­ßen Biafra-De­monstra­tion in Hamburg. Persön­lich­keiten wie Ernst Bloch, Heinrich Böll, Paul Celan, Helmut Gollwitzer, Erich Kästner, Siegfried Lenz oder Carl Zuckmayer unter­stützten die Aktio­nen der Biafra-Hilfe. In den nächs­ten Jahr­­zehnten gelang es Zülch, viele Men­schen für die GfbV zu be­geistern und an die Orga­nisation zu binden: promi­nente Per­sönlich­keiten, Minder­heiten­vertreter, Vereins­mit­glieder und über 30.000 Unter­stützerin­nen und Unter­stützer.

Mit Tilman Zülch an der Spitze ist die GfbV immer wieder gegen den Strom ge­schwom­men und hat sich nicht zuletzt für Volks­gruppen ein­gesetzt, „von denen keiner spricht“, so der Titel eines der von Zülch heraus­ge­gebenen Bücher. Seit 1970 setzt sich die GfbV kon­ti­nuierlich für Kurden, Yeziden oder as­sy­ro/ara­mäi­sche/chal­däi­sche Christen im Nahen Osten ein. So deckte die GfbV die Betei­ligung deutscher Firmen am Aufbau der Giftgas­in­dustrie und einer Kampf­hub­schrauber­flotte im Irak auf, der in der kurdischen Stadt Halabja 5.000 Men­schen zum Opfer fielen. 1977/78 wurde die erste große Europa­rund­reise für indigene De­legierte aus 16 Staaten Nord- und Süd­amerikas or­ganisiert – mit über­wälti­gender öffent­licher Resonanz.

Roma und Sinti

1979 bis 1981 machte die GfbV den bis dahin tabuisierten Holocaust an Sinti und Roma be­kannt. Der von Zülch 1979 heraus­ge­gebe­ne Band „In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt“ (mit einem Vor­wort des kürz­lich ver­stor­benen Philo­so­phen Ernst Tugendhat), ein ge­mein­sam mit dem Verband deutscher Sinti unter Romani Rose or­gani­sierter Trauer­marsch zur KZ-Ge­denk­stätte Bergen-Bel­sen (1979) mit der dama­ligen Prä­sidentin des Europa­parlaments, Simone Veil, und Heinz Galinski, dama­liger Prä­sident des Zentralrats der Juden in Deutschland sowie schließ­lich der Inter­natio­­nale Roma-Kongress (1981) in Göttingen unter Schirm­herr­schaft von Simon Wiesenthal und Indira Ghandi, mit 400 Roma-De­le­gier­ten aus 26 Staaten und fünf Kon­tinenten, brachten den Durch­bruch: Der Genozid wurde von der Bundes­regie­rung an­erkannt. Staaten­lose Sinti er­hielten ihre deutsche Staats­bürger­schaft zurück, die Be­zeichnung Sinti/Roma anstelle von Zigeuner wurde durch­gesetzt und die neu ent­stan­denen Institu­tionen der Volks­gruppe wurden nun staatlich ge­fördert.

Srebrenica

Die GfbV war die wohl lauteste und nachdrücklichste Stimme im deu­tschen Sprach­gebiet, als im Bosnienkrieg (1992–95) Hun­dert­tau­sende Europäer, bosnische Muslime, um ihr Leben liefen, vor ge­schlos­senen Grenzen standen, in Kon­zentra­tions- und Ver­gewaltigungs­lagern, bei stand­rechtlichen Er­schie­ßungen und den Bom­barde­ments ihrer Städte starben. Das Massaker von Srebrenica war der tragische Höhe­punkt ihres Mar­tyriums. Die GfbV or­gani­sierte 1993 die Bosnien-D­emonstra­tion vor der KZ-Ge­denk­stätte Buchenwald, dabei waren auch Marek Edelman, Kom­mandeur der Wider­stands­kämpfer im War­schauer Ghetto, der fran­zö­sische Philo­soph Alain Finkielkraut und der litauische Prä­si­dent Vytautas Landsbergis. Es folg­ten u. a. die große Bosnien-De­monstra­tion mit 50.000 Teil­neh­mern in Bonn (1994), die Gründung des Bosni­schen Forums (1994), der Aufbau eines sym­bo­li­schen Friedhofes vor dem Wohn­haus von Bun­des­kanzler Helmut Kohl (1995) und der bos­nische Genozid­kongress in Frankfurt (1995). Auch hier gilt unser Dank der Unter­stützung von Per­sön­lich­keiten wie Rita Süssmuth, Christian Schwarz-Schilling und Martin Walser.

Schon seit den 1980er Jahren setzte sich die GfbV als eine der ganz wenigen Orga­nisatio­nen für sowjetische Dissidenten wie den An­führer der Krim­tataren Mustafa Dzhemilev ein. Nur folge­richtig war daher auch die in­tensi­ve Arbeit gegen die Kriege in Tschetschenien (1992-1994, 1999-2006), das An­prangern der ent­setzlichen Ver­brechen durch das Putin-Regime dort und die harte Kritik an der deut­schen Russland­politik in den 2000er Jahren. Die GfbV unter Tilman Zülch machte die indige­nen Krimtataren und die von rück­sichts­losem Rohstoff­abbau und Rassismus be­troffe­nen indige­nen Völker der russischen Arktis zu ihrem Anliegen.

1999 schrieb Simon Wiesenthal an Tilman Zülch: „Sie haben eine Organisa­tion mit ge­gründet und aufgebaut, die allen Men­schen, die sich bedroht fühlen, eine Anlauf­stelle für Hilfe bedeutet, mag die Bedrohung gegen Einzel­perv­sonen oder Gruppen gerichtet sein. Sie haben sich für die Rechte so vieler Menschen eingesetzt, dabei den Menschen in den Mittel­punkt Ihrer Bemü­hungen gestellt – ohne Rück­sicht auf persön­liche Nachteile und An­feindungen – und auf diese Weise beispiel­gebend Groß­artiges geleistet. Ich war immer froh, auf Ihre Mit­arbeit zählen zu können. Mögen Ihnen und Ihren Mit­streitern noch viele erfolg­reiche Jahre und Aktionen be­schieden sein!“

Zülch, der Herausgeber einer Reihe von Büchern über Völkermord und Vertrei­bung sowie der Zeitschrift „bedrohte Völker – pogrom“ ist, erhielt für seinen un­ermüd­lichen Einsatz als un­bequemer Mahner und Warner zahl­reiche Aus­zeichnungen, darunter das Bundes­verdienst­kreuz, den Niedersachsen­preis für Publizistik, den Göt­tinger Frieden­spreis, die Ehren­bürger­schaft der Stadt Sarajevo, den Bürger­rechts­preis des Zentral­rats Deutscher Sinti und Roma oder den Srebrenica Award against Genocide. Zülch be­trachtete diese Aus­zeichnungen auch als An­erkennung der Arbeit der Mit­arbei­terinnen und Mit­arbeiter und der Regional­gruppen sowie des Engage­ments der Mit­glieder und Förderer der GfbV.

Sein von Ideologie und Parteipolitik unverstellter Blick für Unrecht, seine Tatkraft und Ent­schlos­sen­heit, seine große Bereit­schaft, Schwä­cheren bei der Durch­setzung ihrer Rechte zur Seite zu ste­hen, bleiben unser Vorbild.

(Text: GfbV)

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